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Volltext:

Vom Überschießen des Irrationalen in die Wirklichkeit

Die Grenze zwischen Natur und Kultur als Ort der Freiheit

Rede vor der Jungen Akademie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften


Für jedermann ist offensichtlich, daß sein Geist von seinem Körper verschieden ist. Wer dieser Vorstellung aufsitzt, so wird heute ganz offen von führenden Biologen gelehrt, falle auf eine genetisch voreingestellte Option herein (»genetic default-option«1). Gemeint ist damit eine Täuschung der Wahrnehmung, die den evolutionären Erfolg zum Beispiel der Gruppe steigere.
Wenn Naturwissenschaftler eine Behauptung als wahr aufstellen, für die es weder einen Beweis gibt, noch für die eine Wahrscheinlichkeit ins Feld geführt werden kann, geschieht dies im Interesse einer Theorie und ihrer gewünschten Bestätigung, aber nicht im Interesse der Wahrheit. Erkenntnistheoretisch ist beweisunabhängige und nichtwahrscheinliche Lehre schlicht nicht mehr wissenschaftlich und zeigt an, daß eine Theorie der Tendenz erliegt, sich allmählich zum Glauben zu steigern. Ja, schlimmer noch, Glauben, der nicht auf Tatsachen beruht und der Wissenschaft nicht zugänglich ist – anders als die christliche Religion –, ist keine Religion, sondern Esoterik. Religiös ist, Nichtwissen zu bekennen und als Glauben preiszugeben. Esoterisch ist, Nichtwissen im Gestus der Lehre als Wissen und Selbstverständlichkeit auszubieten und sich über erkenntniskritische Rückfragen nicht einmal mehr zu empören, sondern diese als längst erledigt abzutun, was sogar auf wissenschaftlichen Tagungen ein selbstverständlicher Überlegenheitsgestus geworden ist. Wir sprechen hier freilich nicht nur über Auswüchse einer faszinierenden und in ihrem Grundgedanken unbezweifelt wahren Lehre, die das Nichtwissen über den Geist geschickt in eine »genetic default-option« kleiden, sondern auch darüber, daß die biometaphysische Weltschau der Evolutionisten die Biologie schon einmal terrorfähig gemacht: im Dritten Reich, in dem die Tötung von Menschen mit wissenschaftlicher Disziplin und Methode unterfangen war2. Wie (begreifbar) die Welt sein soll – das ist metaphysischer Nucleolus, Energieantrieb weiter Bereiche der (materialistischen) Naturwissenschaften, so wie das Wissen, wie wir richtig leben sollen, die Metaphysik der Aufklärung ist. Diesen aufgeklärt-biologischen Fundamentalismus, der den Menschen immer zum Ding und verfügbar macht, hält auch die Ethik nicht in Grenzen, die selbst rational und deshalb schwankend ist, sondern nur das Ethos, das absolut (göttlich) und überrational, unserem Diskurs überhoben ist. Das Recht des Menschen auf Leben ist der Ort der Freiheit, in dem Natur und Kultur sich unvermischt und ungetrennt begegnen.

1. Opfern wir Aufklärung und Freiheit dem Evolutionismus?

Der Aufwand, den der populäre biologistische Monismus treiben muß, um die Aspekttheorie der Evolution zum Gesamtkonzept der Welt des Menschen zu machen, unterscheidet sich nicht allzu sehr von dem dogmatischen Aufwand, den der christliche Fundamentalismus zu treiben hat, um Gott unmittelbar für alles in seiner Schöpfung verantwortlich zu machen. Der Evolutionismus erklärt, so ein Beispiel von Hubert Markl,3 das »evidente Bewußtsein von Willensfreiheit« als Rückgang der Verhaltensfestlegung zur Durchsetzungssteigerung und damit als eine Freiheit, die dem evolutionären Erfolg zu dienen gezwungen ist – eine contradictio in re. Ein dogmatischer Lapsus, der gewiß nicht passiert wäre, wenn Hubert Markl Theologie studiert und sich mit der Theodizee vertraut gemacht hätte, also mit dem aufzulösenden Widerspruch zwischen der Freiheit des Menschen und der Allmacht seines Ursprungs.
Der Evolution steht freilich nicht die Religion gegenüber. Eine Theorie, die die Entwicklung von schon Existierendem, aber nicht den Ursprung erklärt, konkurriert nicht mit einer Lehre, die, nach heutigem Amtsverständnis, nicht die Entwicklung, sondern den Ursprung des Existierenden erklärt. Der eigentliche Wettbewerber der auf das ewig Prozessuale der Natur abstellenden Evolutionstheorie ist der Dualismus, der die Beständigkeit von Prinzipien und die Freiheit des Menschen zum Gegenstand hat. Erst im zweiten Schritt, wenn die Evolution zur Ursache gesteigert, zum Evolutionismus wird, gerät sie in Konflikt mit der Religion. Doch ist dieser Unterschied aktuell recht akademisch. In der Diskussion klingt die Evolution fast immer mit dem Materialismus zusammen, so als ob mit der Evolutionstheorie automatisch die Materie als Ursache des Lebens festgestellt oder als ob dies wahrscheinlich sei. Damit erlischt natürlich auch die Freiheit, über die der Mensch augenscheinlich verfügt.

Immanuel Kant wußte den Menschen vor die Wahl gestellt, seiner Natur zu folgen und sich aus seiner Unmündigkeit zu befreien, oder es nicht zu tun. Bereits in seiner Programmschrift Was ist Aufklärung? räumte er ein, daß viele von diesem Vorrecht keinen Gebrauch machten.4 Die Freiheit des Menschen, sich für oder gegen seine Natur zu entscheiden, ist der metaphysische Kern der Aufklärung.
Dagegen ist die Rechtfertigung der Wirklichkeit als zu 100 Prozent biologisch ein von allen geistigen Vorstellungen losgebundener Materialismus. Karl Marx erklärte, daß die ganze Weltgeschichte nichts anderes sei »als das Werden der Natur für den Menschen«.5 Kultur als Summe menschlichen Verhaltens reduziert sich dann auf die Natur. Das Thema unserer Tagung, die Natur-Kultur-Grenze, wird in biologischer Interpretation zur fehlschlagenden Hypothese. Biologischer Reduktionismus, der sich zum geschlossenen Weltbild steigert, wird so dogmatisch, unfreiheitlich und anti-aufklärerisch, wie es gern der christlichen Religion vorgeworfen wird. Ergebnis ist maximale Vereinfachung. Hubert Markl: »Die Evolution erklärt die schöpferische Freiheit von Natur und Kultur zugleich.«6 Aber bitte bedenken Sie: Wir sitzen dann heute hier, um eine Frage zu erforschen, die die Natur beschreibt, die aber für den aufgeklärten Menschen bedeutungslos ist. Aus einem Irrtum Kants darüber, daß der Mensch sich entscheiden könne, folgt, daß auch unsere Tagung selbst und unser leidenschaftliches Verstehen- und Wissenwollen sich zuletzt auf den Wettbewerb um Fortpflanzung und Versorgung unserer Nachkommen reduziert. Ich zweifle daran, daß irgend jemand hier dies ernsthaft glaubt.

2. Erkenntnistheoretisch unerwünscht

Der Widerspruch der Naturdominanz zu Aufklärung und Freiheit wird aber in der Diskussion erkenntnistheoretisch blockiert. Im Überblicksartikel von Wikipedia über »Methodischen Kulturalismus« heißt es zusammenfassend, die Frage nach »einer vom Subjekt unabhängigen Realität« werde in der gegenwärtigen Diskussion als metaphysisch abgelehnt, weil die Beantwortung dieser Frage dem Menschen »nicht möglich« sei. Demnach hätten wir nur die Wahl, eine Natur-Kultur-Grenze zu diskutieren, die für uns irrelevant ist, weil sie in der Natur auf- und uns Aufgeklärte nichts angeht, oder eine Frage zu stellen, die, so Wikipedia, »Philosophie« sei und nicht Naturwissenschaft, so als ob Philosophie und Realität nichts miteinander zu tun hätten.
Eine positivistische Absurdität, wenn man nicht vergißt, daß die Nichtbeantwortbarkeit einer Frage die Voraussetzung aller wissenschaftlichen Hypothesen ist. Sie sind fortschrittlich, weil wir keine Antwort haben! Weil Naturwissenschaft beschreiben kann, was ist, und Philosophie sagt, was dies für uns bedeutet, ist eine biologistische Diskriminierung der Philosophie zwar der Vereinfachung dienlich, aber unproduktiv – und grotesk dazu, wenn wir mit einem Begriffspaar operieren, das nicht naturgegeben, sondern bereits philosophische Interpretation ist. Schließlich können wir Aspekte von Wirklichkeit auch mit Gegensätzen erfassen wie Natur und Unfreiheit, Natur und Gnade u.a.
Wie für jede Zensur und jedes Denkverbot gibt es auch für die Diskriminierung der Philosophie einen guten Grund. Schon allein Begriff und Vorstellung der Natur-Kultur-Grenze sind metaphysisch grundiert. Wir benötigen nur drei logische Schritte: Da Kultur eine Eigenschaft des Menschen ist, ist die Dichotomie von Natur und Kultur auch die Dichotomie von Natur und Mensch, erster Satz der Aufklärung! Zweitens muß, um Unterscheidung und Grenze zu ermöglichen, Kultur etwas haben, das nicht Natur sein kann.7 Ist also die Dichotomie von Natur und Kultur auch die Dichotomie von Natur und Mensch, und Kultur wenigstens teilweise etwas, das nicht Natur sein kann, muß der Mensch, drittens, etwas haben, das nicht Natur ist, das also außernatürlich sein muß, was nicht anders als übernatürlich gedacht werden kann. Diese stille Hypothese unseres Tagungsthemas ruft die Metaphysik als alternative Option zum Naturalismus in Erinnerung und ist daher anfangsoffen, vorurteilsfrei und produktiv.
Im Folgenden muß es um die Frage gehen, ob ein womöglich materieller Monismus die Einheit der Welt wirkt, oder ob die Gegensatzpaare, die, wie Natur und Kultur, Körper und Seele, Geist und Materie auf die Einheit hinweisen, sozusagen fraktale Wiederholung des großen Ganzen sind, ob diese Gegensätze also wesensmäßig aus Dualität und aus einem immateriellen Prinzip in Kontinuität »ex-sistieren«. Damit stehen und fallen Freiheit, Aufklärung und Religion. Ist der Mensch frei oder nur ein evolutionär instruierter Reaktionsautomat? Leuchtet sein Antlitz von einem Geist, oder vermittelt es nur seinen verborgenen Genotyp in die Welt?8

3. Die Logik erweist die Einheit der Wirklichkeit als nicht monistisch

Nun kann die Idee des Monismus als Alleinursache nicht untersucht werden, weil es keinen dogmatisch zulässigen Ort gibt, von dem aus wir ihn betrachten könnten. Anders die Dualität, die aus Begriffen gebildet ist, deren Beziehung logisch zugänglich ist. Als Grundlage unseres Denkens sind Begriffe und Logik ein alle Differenzen unterfangender gemeinsamer Nenner. Sie befinden sich in einem bestimmten Verhältnis zur Wirklichkeit, das subjektiv immer wahr ist, was sie im einzelnen für den einzelnen auch konkret bedeuten mögen. Es kommt für das Folgende deshalb auf die Rechnung an, nicht auf das, was abgerechnet wird.
Gegensatzpaare zielen auf das Ganze der Welt. Sie sind induktiv metaphysisch und deshalb untereinander funktional gleich. Um zu erfahren, wie Natur und Kultur zueinander stehen, können wir folglich ein höher formalisiertes Gegensatzpaar zur Grundlage einer logischen Berechnung machen und zwei maximal abstrakte Klassen wählen, die immer noch das gesamte Weltinventar rekonstruieren – das, was gleich ist, und das, was verschieden ist.
Es ist eine alltägliche Erfahrung, daß Gleichen, die sich vereinigen, die Einheit versagt ist, denn in der Vereinigung fallen sie ins Einssein zurück, wie der Regentropfen, der ins Meer fällt – der erste Satz der Logik der Formen, aus dem sich alles andere ableitet.9 Die Einheit ist nur zwischen Verschiedenen (Heterologen) möglich. Ihr Verschiedensein wird von der Einheit nicht nur nicht aufgehoben, sondern es entfaltet sich in der Einheit erst in seinem Eigensein, wie in der Einheit von Mann und Frau oder wie in der Einheit von Leib und Seele. Die Gegensätzlichkeit des Verschiedenen ist freilich einer Vereinigung natürlicherweise zuwider. Deshalb ist Voraussetzung der Einheit auch die Einheitlichkeit der Heterologen: Mann und Frau sind ihrer Natur, ihrer geschlechtlichen Identität nach, unaufhebbar verschieden, aber in ihrem Wesen als Menschen einheitlich. Anders als Verschiedenes, das auch seinem Wesen nach verschieden ist wie Mensch und Tier oder Feuer und Wasser, die zur Einheit nicht disponiert sind.
Die Einheitlichkeit ist aber ebenfalls ein logisches Problem, denn jeder Gleichheit ist nach dem ersten Satz der Logik der Formen die Einheit versagt. Auch das Wirken der Einheit selbst kann keine Eigenschaft der Verschiedenen sein, die sie an funktionaler Stelle wieder gleichmachen würde. Es ist ein Drittes notwendig, das »ganz anders« ist und das die Einheit wirkt. Es ist notwendigerweise vor der Einheit existent, also Norm. Norm läßt Opposition und deshalb auch Freiheit zu. Tatsächlich ist die Vereinigung kein Automatismus, kein mechanischer Zwang. Die Heterologen können sich wie Mann und Frau der Einheit verweigern. Die Einheit der Wirklichkeit, die in der Überwindung von Gegensätzen erfahren wird, ist demnach natürlicher Ursprung der Freiheit Immanuel Kants, über die jeder von uns, die wir hier sitzen, ja tatsächlich verfügt, wie auch Hubert Markl einräumt, der sie dann allerdings in biologischer Grundlegung sogleich wieder aufhebt.
Da die Formenlogik die Natur referiert, treffen ihre Aussagen auf alle die Einheit voraussetzenden Gegensatzpaare zu. Natur und Kultur sind folglich ihrer Erscheinung nach gegensätzlich und unvermischt, ihrem Wesen der Anschauung nach aber einheitlich, also ungetrennt und eins. Nun könnte man denken, gerade dies gemeinsame Wesen sei eine hinter der Natur-Kultur-Grenze liegende Bestätigung der Naturdominanz. Logisch ist dies aber unmöglich, denn ist die Natur selbst Teil der Einheit, kann sie diese Einheit, wenn wir die natürlichen Erfahrungen in der Logik der Formen ernstnehmen, nicht erwirken. Beide Heterologen scheiden als Ursprung der Einheit aus, für die das erwähnte Dritte notwendig ist. Was aber müssen wir uns unter diesem Dritten, das außerhalb der Einheit der Wirklichkeit west, vorstellen? Hierzu gibt die Arithmetik Hinweise.
Gleiches ist natürlicherweise das, was sich addieren und subtrahieren läßt, also Materie. Addition und Subtraktion stehen für Vermehrung und Verminderung. Die Summe aller natürlichen Zahlen, die sich durch Addition erreichen läßt, ist unendlich groß. Gleich groß, nämlich unendlich, ist die Summe aller natürlichen Zahlen, die sich durch bloße Umkehr der Rechentätigkeit, also durch Subtraktion, erzielen läßt.
Das zur Materie Gegensätzliche, das Immaterielle, also der Geist, läßt sich bekanntlich mangels Körperlichkeit nicht addieren oder subtrahieren. Sein Wesen ist die Verbreitung, wofür in der Algebra die Multiplikation steht. Deren Umkehr, die Division, zeigt etwas Überraschendes: Die Summe aller natürlichen Zahlen, die sich durch Multiplikation erreichen läßt und die unendlich ist, wird von den Ergebnissen der Division übertroffen. Machen wir die Rechnung rückgängig, entsteht nämlich neben der Menge natürlicher Zahlen, die unendlich ist, eine zweite Menge, die Menge gebrochener nichtperiodischer Zahlen,10 die ebenfalls unendlich ist, also mengentheoretisch etwas Weiteres, Überschüssiges, für das in der positiven Rechnung keine Entsprechung vorhanden ist. Die gebrochenen Zahlen werden aus gutem Grund als nichtrationale (»irrationale«) Zahlen bezeichnet, nicht weil sie unvernünftig wären, sondern weil sie, da sie außerhalb der abzählbaren Verhältnisse Platz nehmen, die Verhältnisse sprengen, überrational sind. Wer dies für eine Zahlenspielerei hält, sollte mitdenken, daß die chemischen Elemente, die Musik und andere Referenzsysteme auf Verhältnissen in ganzen Zahlen beruhen.
Als Resultat halten wir fest: Auch wenn wir bis hierhin nicht wissen, was das Dritte ist, das die Einheit wirkt, sind wir doch einen Schritt weitergekommen. Die Wirklichkeit, die physikalisch einheitlich ist, kann sich selbst nicht monistischer Ursprung sein, da die Gegensätze in sie hineinstehen, in ihr insistieren. Die Vorstellung eines biologischen oder materialistischen Monismus, also zum Beispiel einer sich selbst anstoßenden Evolution wird von der Logik der natürlichen Formen nicht gestützt.

4. Die Wirkursache der dualen Einheit

Wem das spekulativ vorkommt, sollte bedenken, daß die Begriffe und Klassen, in denen wir Wirklichkeit erfassen, die wir logisch voneinander abgrenzen und die sich in der Arithmetik wiederfinden, anders als jede neue naturwissenschaftliche Hypothese gerade nicht spekulativ sind, die erst noch auf ihre Bestätigung im Experiment warten muß.
Intellektuell kann man alles bezweifeln, die Einbettung der Mathematik in die Logik, die Symmetrie zwischen Realität und ihrem Begreifen im Begriff, die Verbindung von Sprache zur Welt usw. Der Zweifel selbst ist metaphysisch und grenzenlos. Ihm steht allerdings die epistemische Intuition gegenüber, die ihren Rang aus der Tatsache erhält, daß Erkenntnistheorie durch Sinnlichkeit fundiert sein muß. Sie ist ein spontanes Wissen, daß etwas zumindest unwahrscheinlich oder etwas immerhin möglich ist.11 So hat der besonnene Betrachter, der die Erhebung der Evolutionstheorie zur Weltformel kritisch betrachtet, doch der Theorie selbst als Aspekterklärung kaum etwas Vernünftiges entgegenzusetzen. Es ist offensichtlich, daß die Evolutionstheorie, wenn auch ihre Prinzipien zum Teil kaum überprüfbar sind, wahrscheinlich und wahr ist.
Die epistemische Intuition leitet aus Überlegenheit und Vorsatzlosigkeit an. Während die Ergebnisse von Analyse im günstigen Fall auf etwas anderes hinweisen, weist die Anschauung von sich aus auf etwas anderes hin. Gegenüber der biologischen Analyse, deren Erkenntnis eine Frage oder These vorausgehen muß, geht der denkerischen Synthese die Sache selbst voraus. Ja, analytisches Rechnen kann selbst nicht auf mythische Voraussetzungen verzichten, wie umgekehrt auch das Denken in Synthese logisch zu sein beanspruchen soll. Es sind also sogar die beiden Erkenntniswege einander in Gegensätzlichkeit koordiniert, eine Dualität, die ohne die Einheit der Wirklichkeit nicht gedacht werden kann.12 Dualität aus Koordination ist immerhin sogar Gegenstand einer Naturwissenschaft, der Psychosomatik, die analytische Schlüsse aus der Leib-Seele-Koordination zuläßt, ohne daß die Grundannahme selbst der Analyse, dem Beweis zugänglich wäre.13 Das Zusammenspiel von Synthese und Analyse ist offensichtlich näher am Geheimniszustand der Welt als eine Analyse, die sich erkenntnistheoretisch nicht einmal selbst begründen kann.
Doch, ich beschränke mich hier aus Gründen der Akzeptanz auf die Analyse, die das ominöse Dritte, die Wirkursache für die Einheit, in der Arithmetik als irrational gekennzeichnet hat. Die nächste naheliegende Frage ist: Kann das Ergebnis einer Rechnung sein, was nicht schon, wenigstens funktional, in der Rechnung selbst enthalten ist? Wenden wir also die Regeln der Formenlogik auf die Logik selbst an, auf das Werkzeug, ohne das kein wissenschaftliches und kein philosophisches Verstehen von Wirklichkeit möglich ist.
Der Gegensatz zur Logik ist nicht die Unlogik, denn beide schließen sich wechselseitig aus und sind damit nicht zur Einheit aufgelegt. Das Heterologe zur Logik ist das Paradox. Ein Beispiel aus der Physik: Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik ist sicher wahr wie auch die Allgemeine Relativitätstheorie sicher wahr ist (formale Einheitlichkeit). Beide lassen sich nicht in Übereinstimmung bringen, sie widerstreiten einander, was nicht unlogisch, sondern paradox, man kann sagen: überlogisch ist. Der funktionale Unterschied zwischen Unlogik und Überlogik besteht darin, daß das Unlogische als definitiv unmöglich festgestellt werden kann, das Überlogische, Paradoxe, ist dagegen (abhängig von Kenntnisständen) nicht logisch, aber dennoch möglich. Paradoxe sind deshalb Teil unserer Welt und erscheinen in ihrem Eigensein erst in der Einheit mit der Logik. Das Dritte, das die Einheit von Logik und Paradox wirkt, kann folglich weder logisch noch paradox sein. Was bleibt, wenn wir alles von der Welt abziehen, das logisch oder paradox ist? Es ist das Irrationale. Logik, das Werkzeug unseres Diskurses deutet, wenn wir es in der Formenlogik auf es selbst anwenden, auf etwas als Ursache hin, das nicht logisch ist, das in der Arithmetik dann durchbricht, wenn die Technik der Verbreitung mechanisch umgekehrt wird. Umkehr hat Richtung auf den Ursprung hin. Das Irrationale erscheint dabei erstaunlicherweise aus bloßer Traktion des Vorhandenen, das, was sich unserer Rechenlogik überhebt, also un-logisch ist, dasjenige, das die Verhältnisse sprengt, das, wovon die Religion in uralten Bildern berichtet.14
Blicken wir auf das eingangs Gesagte zurück: Der Evolution steht nicht die Religion gegenüber, sondern die Wahrnehmung, daß die Realität natürlicherweise dual ist. Die Einheitlichkeit der Heterologen schließt die Selbstverursachung der Dualität aus, denn die Natur ist von dem Prinzip geprägt, daß etwas Gleiches nichts hervorbringen kann. Warum die Dualitäten, die von der kontingenten Ordnung der Welt zeugen und auch erkenntnistheoretisch relevant sind, in die Materie zurückfallen sollen, ist nicht erkennbar. Im Gegenteil, sie weisen auf ein Drittes und, zuletzt, auf ein ganz Anderes, Metaphysisches hin.
Die Vorstellung von einer Grenze zwischen den Heterologen einer Einheit scheint für das erkenntnistheoretische Verständnis nicht wesentlich zu sein, denn die Einheit schränkt sie nicht ein, sondern fördert ihr Eigensein. Auch Natur und Kultur befinden sich als Dualität, die die Einheit der Welt voraussetzt, in einem logischen Verhältnis. Sie sind gegensätzlich und, weil auch die Natur in der Dualität der menschlichen Anschauung unterliegt, einheitlich. Das bedeutet, daß die Natur als Wirkursache, die Naturdominanz, logisch nicht möglich ist.
Ja, die Logik selbst, ohne die wir zu sprechen aufhören müssen, ist Teil einer Dualität und damit ein weiteres Modell, Welt zu verstehen. Sie erläutert die Wirkursache der Dualität als das Irrationale, dessen Widerschein die dem Menschen eingestiftete Freiheit ist. Sie ist die Zustimmung, die die Verschiedenen in schwebender Koordination hält, die sie auf die Einheit hin überwindet und die uns zu Handlungen befähigt, die Biologie und Evolutionismus nicht schlüssig zu erklären vermögen, nämlich, daß wir uns, worauf schon Kant hingewiesen hat, zuweilen auch gegen die Natur entscheiden.


Anmerkungen

1 So der Gießener Biophilosoph Eckart Voland in seinem während der Tagung vorangegangenen Vortrag.

2 Wohin moderner rationaler Materialismus, Säkularismus und der Ersatz des Ethos durch die Prinzipien der Evolution führen können, hat die Geschichte im Dritten Reich gezeigt, Markus von Hänsel-Hohenhausen: Hitler und die Aufklärung. Der philosophische Ort des Dritten Reiches. Beitrag zur Theorie der modernen Despotien und zum Mythos der politischen Religion. Frankfurt a.M. 2013.

3 Hubert Markl: Natur und Kultur: Durch Evolution vereint!, in: Theorie, Formen und Konsequenzen eines Paradigmas in Natur, Technik und Kultur. Hrsg. v. Volker Gerhardt et al. Berlin 2011, S.49-56

4 »Nachdem die Natur die Menschen längst von fremder Leitung freigesprochen hat, bleibt ein großer Teil zeitlebens unmündig. [...] Es ist so bequem, unmündig zu sein.« Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift 1783, Dez., S. 35

5 MEW 40,546

6 Ebda., S. 54.

7 Das Gegenteil ist ebenfalls offensichtlich.

8 Was das Leben ohne die geistige Dimension ist, hat Thomas Mann im Zauberberg anschaulich charakterisiert: »Es war ein heimlich-fühlsames Sichregen in der keuschen Kälte des Alls, eine wollüstig-verstohlene Unsauberkeit von Nährsaugung und Ausscheidung, ein exkretorischer Atemhauch von Kohlensäure und üblen Stoffen verborgener Herkunft und Beschaffenheit. Es war das durch Überausgleich seiner Unbeständigkeit ermöglichte und in eingeborene Bildungsgesetze gebannte Wuchern, Sichentfalten und Gestaltbilden von etwas Gedunsenem aus Wasser, Eiweiß, Salz und Fetten, welches man Fleisch nannte, und das zur Form, zum hohen Bilde, zur Schönheit wurde, dabei jedoch der Inbegriff der Sinnlichkeit und der Begierde war. Denn diese Form und Schönheit war nicht geistgetragen, wie in den Werken der Dichtung und Musik, auch nicht getragen von einem neutralen und geistverzehrten, den Geist auf eine unschuldige Art versinnlichenden Stoff, wie die Form und Schönheit der Bildwerke. Vielmehr war sie getragen und ausgebildet von der auf unbekannte Art zur Wollust erwachten Substanz, der organischen, verwesend-wesenden Materie selbst, dem riechenden Fleische.«

9 S. meine Logik: Die Einheit der Wirklichkeit in logischer und mathematischer Formalisierung. Frankfurt a.M. 2013

10 Zahlen, deren Dezimaldarstellung nicht abbricht und nicht periodisch ist; prominent ist die sog. Kreiszahl. 3,14159...

11 Die logische Einbettung der Mathematik wird hier wegen des hohen Deckungsgrades zwischen Mathematik und Logik als gegeben vorausgesetzt. Die große Diskussion, ob die Begriffe die Dinge an sich ergreifen oder nur unsere durch die Evolution gewachsene Art des Zugreifens auf etwas immer unbekannt Bleibendes sind, dürfen wir ebenfalls vernachlässigen. Begriffe sind, verkürzt gesagt, die einzige und in diesem Sinn für unsere Wahrnehmung objektiv zutreffende Repräsentation welthaltiger Erfahrung – und damit gemeinsamer Nenner unseres Diskurses.

12 Diese Beobachtung ist Gegenstand meiner erkenntnistheoretischen Untersuchung: Ich denke, also glaube ich. Cogito ergo credo. Von Metaphysik und Glaubenswissen als Fundament und Gunst von Naturwissenschaft und westlicher Gesellschaft. Mit einem Vorwort von Joachim Kardinal Meisner. Zweisprachige Ausgabe: I think, therefore I believe. Cogito ergo credo. Metaphysics and religious Knowledge as a Fundament and beneficial Force within Natural Science and Western Society. With a Foreword by Joachim Kardinal Meisner. Frankfurt a.M., München, London, New York 2008. 307 S., als amerikanische Ausgabe u.d.T. erschienen: The True Countenance of Man. Science and Belief as Coordinate Magisteria (COMA). A Theory of Knowledge, 2012.

13 Logisch regulierte Metaphysik ist auch Grundlage der Aufklärung, die den Glauben an »die Natur«, an »die Vernunft« und an die Glückseligkeit des Menschen als Grundlage eines alles analysierenden Verstandes verkündet hat. Auch wenn die Aufklärung die Mythen desavouiert hat, kommt sie ohne Mythen nicht aus.

14 Dabei ist die Gegenwart von Metaphysischem bzw. Abwesendem, die durch zwei erzeugt wird, ein an vielen Orten zu beobachtendes Phänomen. In der Linguistik etwa die erkenntnistheoretische Potenz von Sprache, die durch Sprache erklärt werden kann und damit auf ein anderes hinweist; in der Mengenlehre die Menge, die sich selbst enthalten soll und die Problematik der Selbstverursachung vor Augen stellt. Die Verschränkung von Präsenz und Repräsentation als andere Form von Iteration existiert auch als bildtheoretisches Konzept zum Beispiel im Portrait Las Meninas von Velázquez. In der Musik ist es vielleicht die Hemiole, die sich ohne Mehrung der zeitlichen Substanz auf ein Drittes hin übertrifft, im Gottesdienst das Brot, dessen Substanz (Bedeutung) sich wandelt.